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Erinnerungsort
Erinnerungen prägen unser Leben und unsere Persönlichkeit. Die Vergangenheit ist nicht unmittelbar erfahrbar; sie kann nur aufgrund von Zeugnissen gedeutet und zu für uns heute sinnvollen Erzählungen verknüpft werden, die Antworten auf existentielle Fragen versprechen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
Die „Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart“ (Pierre Nora) ist in unserem alltäglichen Umfeld auf vielerlei Art und Weise spürbar. Wir leben in einer regelrechten Erinnerungskultur; nicht nur Orte wie Museen oder Denkmäler, sondern auch vielfältige andere (Erinnerungs)Orte geben Anlass dazu, uns mit uns selbst und der Vergangenheit zu beschäftigen.
Aber nicht nur einzelne Menschen erinnern sich, auch gesellschaftliche Gruppen besitzen gemeinsame Erinnerungen und somit ein kollektives Gedächtnis. Solche kollektiven Erinnerungen bedürfen bestimmter Ankerpunkte, durch die sie Gestalt annehmen können. Das können konkrete Orte, Menschen und mythische Gestalten, Ereignisse, Ideen, Bräuche oder auch Symbole sein. Diese Ankerpunkte werden als Erinnerungsorte bezeichnet. In Siegen und dem Siegerland sind es sicherlich für viele Henner und Frieder, die beiden Schlösser, die weithin sichtbare Nikolaikirche mit dem „Krönchen“, der Maler Rubens, der Hauberg oder der Bergbau. Die Beschäftigung mit diesen Erinnerungsorten trägt zu einer „Selbstentdeckung“ und vielleicht auch zur Neuentdeckung der Region bei.
Sachgeschichte
Der Begriff Erinnerungsort wurde von dem französischen Historiker Pierre Nora (*1931) geprägt. In seinem entsprechend betitelten, siebenbändigen Werk „Les lieux de mémoire“ (1984 – 1992) beschrieb er Erinnerungsorte der französischen Nation. Darunter finden sich zwar durchaus geographische Orte wie Verdun, darüber hinaus aber auch die Tour de France, Jeanne d'Arc, die Marseillaise oder Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Anlass für Noras Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis waren von ihm beobachtete gesellschaftliche Veränderungen. Nachdem sich traditionelle Erinnerungsgemeinschaften wie zum Beispiel das Bauerntum aufgelöst hatten und auch die Nation an Bedeutung verlor, suchte er nach neuen Anknüpfungspunkten für die kollektiven Erinnerungen, die er mit Treibgut an einem Strand verglich.
Nora stützte sich auf die Arbeit des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877-1945). Halbwachs, der im Juli 1944 in Paris von der Gestapo verhaftet und im März 1945 in dem KZ Buchenwald ermordet wurde, hatte sich schon einige Jahrzehnte zuvor mit der Frage beschäftigt, „inwiefern […] das Gedächtnis von der gesellschaftlichen Umwelt abhängt“. Bis dahin galten Erinnerungen als eine persönliche, rein individuelle Gelegenheit. Ausgehend von seiner Beobachtung, dass „ganz sicher die meisten unserer Erinnerungen uns dann kommen, wenn unsere Eltern, unsere Freunde oder andere Menschen sie uns ins Gedächtnis rufen“ stellte Halbwachs einen Zusammenhang zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis (mémoire collective) her.
Die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer sozialen Gruppe bewirkt nach Halbwachs die Übernahme ihrer kollektiven Erinnerungen. Umgekehrt hat das Verlassen einer Erinnerungsgemeinschaft oder ihre Auflösung auch den Verlust der gemeinsamen Erinnerungen zur Folge – die Erinnerungsorte ‚erkalten‘ somit. Das kollektive Gedächtnis ist laut Maurice Halbwachs ein Merkmal menschlicher Gemeinschaften. Streng genommen gibt es also eine Vielzahl kollektiver Gedächtnisse und jeder einzelne Mensch hat an mehreren davon teil. Allerdings bewahren Gruppen Erinnerungen nicht einfach bloß auf, sondern bringen auch selbst neue Erzählungen und Interpretationen der Vergangenheit durch Aushandlungsprozesse hervor. Dabei sind die Gegenwart und die aktuellen Bedürfnisse der Menschen ausschlaggebend – in Zeiten der Not sind etwa andere Erinnerungen von Bedeutung als in Zeiten des Wohlstandes und positive Erinnerungen werden anders verarbeitet als negative oder mit Scham behaftete.
Erinnerungsorte entstehen allerdings nicht immer nur auf natürliche Weise ‚von unten‘, d. h. innerhalb der Erinnerungsgemeinschaften. Daneben sind ‚Erinnerungsspezialistinnen und Erinnerungsspezialisten‘ wie Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer, Museumsfachleute, Archivare und Archivarinne oder Denkmalpfleger und Denkmalpflegerinnen sowie mitunter auch Laien oder semi-professionelle Akteure aus Heimatvereinen oder der Werbe- und Tourismusbranche an der Entstehung bzw. Etablierung von Erinnerungsorten im kollektiven Gedächtnis beteiligt. Dabei wird teilweise aktiv versucht, ein bestimmtes Geschichtsbild zu vermitteln. Manchmal geschieht dies mehr oder weniger als Nebenprodukt, vor allem, wenn Erinnerungsorte für touristische Zwecke benutzt werden.
Nicht nur Pierre Nora, sondern auch die deutsche Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann und ihr Mann, der Kulturwissenschaftler Jan Assmann, haben sich von Maurice Halbwachs‘ Überlegungen inspirieren lassen. Sie entwickelten dessen Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis weiter und unterscheiden zwischen einem kurzlebigen, dynamischen kommunikativen einem dauerhaften kulturellen Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis dient in erster Linie der Bewältigung des täglichen Lebens. Die darin bewahrten gemeinsamen Erinnerungen beruhen auf der alltäglichen zwischenmenschlichen Kommunikation und gehen nach nur etwa drei bis vier Generationen verloren. Im Gegensatz dazu ist das kulturelle Gedächtnis in seiner Lebensdauer nicht begrenzt, da es sich auf langfristig bestehende, institutionalisierte Ankerpunkte wie Texte, Bilder und Riten stützt. Mittlerweile genießt das Konzept der Erinnerungsorte eine enorme Popularität. Die Konzepte von Maurice Halbwachs, Pierre Nora sowie Jan und Aleida Assmann stellen bei weitem nicht die einzigen, wohl aber die einflussreichsten Ansätze zur Erforschung kollektiver Erinnerung dar.
Erinnerungsorte können auf mehreren Ebenen nebeneinander existieren. So gibt es (inter)nationale und auch regionale – in unserem Fall Siegerländer – Erinnerungsorte. Zudem haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedliche Erinnerungsorte. Ältere Menschen können andere haben als junge, Protestanten andere als Katholiken, – um nur einige mögliche Erinnerungsgemeinschaften zu nennen. Gemeinsam ist ihnen, dass viele Menschen etwas mit ihnen verbinden und sie für ihre Identität als relevant einstufen.
Diese Vielfalt der Erinnerungsgemeinschaften spiegelt sich in zahlreichen Buchpublikationen zu (inter)nationalen sowie regionalen Erinnerungsorten wider. Die deutschen Erinnerungsorte wurden von Etienne François & Hagen Schulze veröffentlicht, welche dabei jedoch ein anderes Anliegen verfolgten als Pierre Nora zuvor mit seiner Pionierarbeit Les lieux de mémoire. Während es, wie schon der Titel „Erinnerungsorte Frankreichs“ andeutet, Noras Anliegen gewesen war, die französische Nationalgeschichte aus dem Blickwinkel der Erinnerungsgeschichte neu zu erzählen, wählten François und Schulze angesichts der vielen Brüche in der deutschen Geschichte bewusst den Titel „Deutsche Erinnerungsorte“, der keinen Hinweis auf eine nationale und staatliche Kontinuität enthält. Unter den von Ihnen ausgemachten Erinnerungsorten finden sich so unterschiedliche Dinge wie der Berliner Reichstag, Goethe, Grimms Märchen, die Bundesliga und Beethovens Neunte aber auch schmerzhafte oder Unbehagen und Scham auslösende Erinnerungsorte wie Stalingrad oder Auschwitz.
Das Projekt ZEIT.RAUM Siegen will in Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern regionale Erinnerungsorte in und um Siegen identifizieren und auf ihre Bedeutung für die Menschen untersuchen. Teil des Projekts ist die Erstellung eines interaktiven und multimedialen 3D-Stadtmodells, welches im Siegerlandmuseum ausgestellt sein wird und solche Erinnerungsorte sicht- und greifbar macht.
Erinnerungskulturelle Debatten
Diskussionen über Erinnerungsorte sind ein fester Bestandteil der Erinnerungskultur und berühren nicht nur die eigene Identität, sondern oftmals auch politische und wirtschaftliche Fragen. Besonders im Falle schmerzhafter oder Unbehagen und Scham auslösender kollektiver Erinnerungen werden solche Debatten mitunter erbittert geführt. Auf nationaler Ebene ist dies aktuell zum Beispiel anhand des Streits um die Anerkennung des Völkermordes an den Herero und Nama, den die deutsche Kolonialmacht zwischen 1904 und 1908 in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) verübte, erkennbar. Ein umstrittener regionaler Erinnerungsort ist der kommunistische Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Walter Krämer. Der gebürtige Siegener war unter anderem im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert, wo er als Pfleger im Häftlingskrankenbau tätig war und dank seiner autodidaktisch angeeigneten medizinischen Kenntnisse vielen Mithäftlingen trotz schwierigster Bedingungen helfen konnte. Am 6. November 1941 wurde Walter Krämer im Steinbruch in Hahndorf von der SS ermordet.
Obwohl die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit bereits 1984 vorgeschlagen hatte, Walter Krämer auch in Siegen angemessen zu ehren und die israelische Gedenkstätte Yad Vashem ihn bereits im Jahr 2000 mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“ auszeichnete, waren die Bestrebungen, Walter Krämer durch die Benennung einer Straße oder eines Platzes zu ehren, lange Zeit umstritten. Erst 2012 beschloss der Rat der Stadt Siegen, den neuen Platz vor dem Eingang des Kreiskrankenhauses in Siegen-Weidenau nach Walter Krämer zu benennen.