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wiki:dokuwiki [2016/08/02 09:43]
matthias.opitz [Sachgeschichte]
wiki:dokuwiki [2016/08/02 10:27]
matthias.opitz [Sachgeschichte]
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 ===== Sachgeschichte ===== ===== Sachgeschichte =====
  
-Der Begriff Erinnerungsort wurde von dem französischen Historiker Pierre Nora (*1931) geprägt. In einem siebenbändigen Werk „Les lieux de mémoire“ (1984 – 1992) beschrieb er Erinnerungsorte der französischen Nation. Darunter finden sich geographische Orte wie Verdun, aber auch die Tour de France, Jeanne d'Arc, die Marseillaise oder Marcel Prousts „Nation“+Der Begriff Erinnerungsort wurde von dem französischen Historiker Pierre Nora (*1931) geprägt. In einem siebenbändigen Werk „Les lieux de mémoire“ (1984 – 1992) beschrieb er Erinnerungsorte der französischen Nation. Darunter finden sich geographische Orte wie Verdun, aber auch die Tour de France, Jeanne d'Arc, die Marseillaise oder Marcel Prousts ​„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Anlass für Noras Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis waren von ihm beobachtete gesellschaftliche Veränderungen. Nachdem sich traditionelle Erinnerungsgemeinschaften wie zum Beispiel das Bauerntum aufgelöst hatten und auch „Nation“ ​an Bedeutung verloren hatte, suchte er nach neuen Anknüpfungspunkten für gemeinsame, verbindende französische Identitäten. ​
  
-Anlass für Noras Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis waren von ihm beobachtete gesellschaftliche Veränderungen. Nachdem sich traditionelle Erinnerungsgemeinschaften wie zum Beispiel das Bauerntum aufgelöst hatten und auch „Nation“ an Bedeutung verloren hatte, suchte er nach neuen Anknüpfungspunkten für gemeinsame, verbindende französische Identitäten. ​Nora stützte sich auf die Arbeit des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877-1945). Halbwachs, der im Juli 1944 in Paris von der Gestapo verhaftet und im März 1945 in dem KZ Buchenwald ermordet wurde, hatte sich mit der Frage beschäftigt,​ „inwiefern […] das Gedächtnis von der gesellschaftlichen Umwelt abhängt“. Bis dahin galten Erinnerungen als eine persönliche,​ rein individuelle Angelegenheit. Ausgehend von seiner Beobachtung,​ dass „ganz sicher die meisten unserer Erinnerungen uns dann kommen, wenn unsere Eltern, unsere Freunde oder andere Menschen sie uns ins Gedächtnis rufen“ stellte Halbwachs einen Zusammenhang zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis her.+Nora stützte sich auf die Arbeit des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877-1945). Halbwachs, der im Juli 1944 in Paris von der Gestapo verhaftet und im März 1945 in dem KZ Buchenwald ermordet wurde, hatte sich mit der Frage beschäftigt,​ „inwiefern […] das Gedächtnis von der gesellschaftlichen Umwelt abhängt“. Bis dahin galten Erinnerungen als eine persönliche,​ rein individuelle Angelegenheit. Ausgehend von seiner Beobachtung,​ dass „ganz sicher die meisten unserer Erinnerungen uns dann kommen, wenn unsere Eltern, unsere Freunde oder andere Menschen sie uns ins Gedächtnis rufen“ stellte Halbwachs einen Zusammenhang zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis her.
  
 Die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer sozialen Gruppe bewirkt nach Halbwachs die Übernahme ihrer kollektiven Erinnerungen. Umgekehrt hat das Verlassen einer Erinnerungsgemeinschaft oder ihre Auflösung auch den Verlust der gemeinsamen Erinnerungen zur Folge – die Erinnerungsorte ‚erkalten‘ somit. Das kollektive Gedächtnis ist laut Maurice Halbwachs ein Merkmal menschlicher Gemeinschaften. Streng genommen gibt es also eine Vielzahl kollektiver Gedächtnisse und jeder einzelne Mensch hat an mehreren davon teil. Allerdings bewahren Gruppen Erinnerungen nicht einfach bloß auf, sondern bringen auch selbst neue Erzählungen und Interpretationen der Vergangenheit durch Aushandlungsprozesse hervor. Dabei sind die Gegenwart und die aktuellen Bedürfnisse der Menschen ausschlaggebend – in Zeiten der Not sind etwa andere Erinnerungen von Bedeutung als in Zeiten des Wohlstandes und positive Erinnerungen werden anders verarbeitet als negative oder solche, die mit Scham behaftet sind. Die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer sozialen Gruppe bewirkt nach Halbwachs die Übernahme ihrer kollektiven Erinnerungen. Umgekehrt hat das Verlassen einer Erinnerungsgemeinschaft oder ihre Auflösung auch den Verlust der gemeinsamen Erinnerungen zur Folge – die Erinnerungsorte ‚erkalten‘ somit. Das kollektive Gedächtnis ist laut Maurice Halbwachs ein Merkmal menschlicher Gemeinschaften. Streng genommen gibt es also eine Vielzahl kollektiver Gedächtnisse und jeder einzelne Mensch hat an mehreren davon teil. Allerdings bewahren Gruppen Erinnerungen nicht einfach bloß auf, sondern bringen auch selbst neue Erzählungen und Interpretationen der Vergangenheit durch Aushandlungsprozesse hervor. Dabei sind die Gegenwart und die aktuellen Bedürfnisse der Menschen ausschlaggebend – in Zeiten der Not sind etwa andere Erinnerungen von Bedeutung als in Zeiten des Wohlstandes und positive Erinnerungen werden anders verarbeitet als negative oder solche, die mit Scham behaftet sind.
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 Mittlerweile genießt das Konzept der Erinnerungsorte eine enorme Popularität. Die Konzepte von Maurice Halbwachs, Pierre Nora sowie Jan und Aleida Assmann stellen nicht die einzigen, wohl aber die einflussreichsten Ansätze zur Erforschung kollektiver Erinnerung dar. Mittlerweile genießt das Konzept der Erinnerungsorte eine enorme Popularität. Die Konzepte von Maurice Halbwachs, Pierre Nora sowie Jan und Aleida Assmann stellen nicht die einzigen, wohl aber die einflussreichsten Ansätze zur Erforschung kollektiver Erinnerung dar.
  
-Erinnerungsorte können auf mehreren Ebenen nebeneinander existieren. So gibt es (inter)nationale und auch regionale – in unserem Fall Siegerländer – Erinnerungsorte. Zudem haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedliche Erinnerungsorte. Ältere Menschen können andere haben als junge, Protestanten andere als Katholiken, – um nur einige mögliche Erinnerungsgemeinschaften zu nennen. Gemeinsam ist einem Erinnerungsort,​ dass viele Menschen etwas mit ihm verbinden und ihn für ihre Identität als relevant ​einstufen. Diese Vielfalt der Erinnerungsgemeinschaften wird anhand der zahlreichen Buchpublikationen zu (inter)nationalen sowie regionalen Erinnerungsorten deutlich. Die deutschen Erinnerungsorte wurden von Etienne François & Hagen Schulze veröffentlicht,​ welche dabei jedoch ein anderes Anliegen verfolgten als Pierre Nora zuvor mit seiner Pionierarbeit "Les lieux de mémoire"​. Während es, wie schon der Titel „Erinnerungsorte Frankreichs“ andeutet, Noras Anliegen gewesen war, die französische Nationalgeschichte aus dem Blickwinkel der Erinnerungsgeschichte neu zu erzählen, wählten François und Schulze bewusst den Titel „Deutsche Erinnerungsorte“,​ der angesichts der vielen Brüche in der deutschen Geschichte passender erscheint und darüber hinaus die Eingebundenheit Deutschlands in einen deutschsprachigen und gesamteuropäischen Rahmen widerspiegelt. Unter den von Ihnen ausgemachten Erinnerungsorten finden sich so unterschiedliche „Orte“ wie der Berliner Reichstag, Goethe, Grimms Märchen, die Bundesliga und Beethovens Neunte aber auch schmerzhafte oder Unbehagen und Scham auslösende Erinnerungsorte wie Stalingrad oder Auschwitz.+Erinnerungsorte können auf mehreren Ebenen nebeneinander existieren. So gibt es (inter)nationale und auch regionale – in unserem Fall Siegerländer – Erinnerungsorte. Zudem haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedliche Erinnerungsorte. Ältere Menschen können andere haben als junge, Protestanten andere als Katholiken, – um nur einige mögliche Erinnerungsgemeinschaften zu nennen. Gemeinsam ist einem Erinnerungsort,​ dass viele Menschen etwas mit ihm verbinden und ihn für ihre Identität als relevant ​empfinden 
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 +Diese Vielfalt der Erinnerungsgemeinschaften wird anhand der zahlreichen Buchpublikationen zu (inter)nationalen sowie regionalen Erinnerungsorten deutlich. Die deutschen Erinnerungsorte wurden von Etienne François & Hagen Schulze veröffentlicht,​ welche dabei jedoch ein anderes Anliegen verfolgten als Pierre Nora zuvor mit seiner Pionierarbeit "Les lieux de mémoire"​. Während es, wie schon der Titel „Erinnerungsorte Frankreichs“ andeutet, Noras Anliegen gewesen war, die französische Nationalgeschichte aus dem Blickwinkel der Erinnerungsgeschichte neu zu erzählen, wählten François und Schulze bewusst den Titel „Deutsche Erinnerungsorte“,​ der angesichts der vielen Brüche in der deutschen Geschichte passender erscheint und darüber hinaus die Eingebundenheit Deutschlands in einen deutschsprachigen und gesamteuropäischen Rahmen widerspiegelt. Unter den von Ihnen ausgemachten Erinnerungsorten finden sich so unterschiedliche „Orte“ wie der Berliner Reichstag, Goethe, Grimms Märchen, die Bundesliga und Beethovens Neunte aber auch schmerzhafte oder Unbehagen und Scham auslösende Erinnerungsorte wie Stalingrad oder Auschwitz.
  
 Das Projekt ZEIT.RAUM Siegen will in Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern regionale Erinnerungsorte in und um Siegen identifizieren und auf ihre Bedeutung für die Menschen untersuchen. Teil des Projekts ist die Erstellung eines interaktiven und multimedialen 3D-Stadtmodells,​ welches im Siegerlandmuseum ausgestellt sein wird und solche Erinnerungsorte sicht- und greifbar macht. ​ Das Projekt ZEIT.RAUM Siegen will in Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern regionale Erinnerungsorte in und um Siegen identifizieren und auf ihre Bedeutung für die Menschen untersuchen. Teil des Projekts ist die Erstellung eines interaktiven und multimedialen 3D-Stadtmodells,​ welches im Siegerlandmuseum ausgestellt sein wird und solche Erinnerungsorte sicht- und greifbar macht. ​
wiki/dokuwiki.txt · Zuletzt geändert: 2017/10/19 16:18 (Externe Bearbeitung)