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Walter Krämer (* 21. Juni 1892 in Siegen; † 6. November 1941 bei Goslar)

Herrmann Walter Krämer war ein in Siegen geborener Schlosser und Politiker, der aufgrund seiner Zugehörigkeit zur KPD am 28. Februar 1933 vom NS-Regime in Schutzhaft genommen und bis zu seiner Ermordung in Goslar am 6. November 1941 nicht mehr auf freien Fuß gesetzt wurde. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung ruhte sein politisches Mandat als Abgeordneter der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Preußischen Landtag gerade, da die Sitzungsperiode des Jahres 1933 noch nicht begonnen hatte, sodass seine politische Immunität als Abgeordneter aufgehoben war. Krämer wurde im August 1937 im KZ Buchenwald inhaftiert, wo er sich selbst zum ‚Arzt‘ ausbildete und als verantwortlicher Funktionshäftling den Häftlingskrankenbau führte, in dem zahlreichen KZ-Insassen das Leben gerettet wurde. Hierfür wurde Walter Krämer vom Staat Israel im Jahr 2000 durch die Gedenkstätte Yad Vashem posthum der Titel eines ‚Gerechten unter den Völkern‘ verliehen.

Stele auf dem Walter Krämer-Platz am Kreiskrankenhaus in Siegen-Weidenau.

I: Sachgeschichte

I.1: Jugend

Hermann Walter Krämer wurde am 21. Juni 1892 in Siegen als Sohn des Lokführers Wilhelm Krämer und dessen Ehefrau Lina Krämer in eine streng protestantische, politisch deutsch-national orientierte Familie geboren. Er war das älteste von insgesamt fünf Kindern und genoss eine christlich-konservative Erziehung, wie sie zu damaliger Zeit im Siegerland üblich war. Nachdem Walter Krämer die achtjährige Volksschulzeit 1906 hinter sich gebracht hatte, trat er als Vierzehnjähriger eine Schlosserlehre bei der Siegener Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft an.

1911 meldete sich Walter Krämer dann, ganz im Sinne des kaisertreuen Vaters, für vier Jahre freiwillig zur Marine, wo er zunächst auf dem Linienschiff „Posen“ als Heizer eingesetzt wurde. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 verlängerte sich Krämers Dienstzeit zunächst auf unbestimmte Zeit. Seine spätere Frau Liesel Krämer erinnerte sich später: „Walter war fast auf sämtlichen deutschen Kriegsschiffen, weil keines ihn behalten wollte, […].“ Die Lage für die einfachen Matrosen auf den Kriegsschiffen war alles andere als angenehm. Der kommandierende Admiral des IV. Linienschiffgeschwaders, Souchon, schrieb 1917 an seine Frau: „Das Hausen nun schon jahrelang in diesen eisernen Löchern, wer weiß wie weit vom Tageslicht entfernt, muss unfehlbar auf die Stimmung drücken.“ Aber nicht allein das Hausen unter Deck und die Arbeit des Heizers bei mehr als 50 Grad Celsius vor den Kesselöfen im Bauch des Schiffes wecken das Ungerechtigkeitsempfinden in Walter Krämer. Vor allem die qualitativ wie quantitativ sehr ungleiche Versorgung von Matrosen und Offizieren mit Lebens- und Genussmitteln, Geld, Freizeit und Komfort führte dem bis dahin treuen Untertanen seiner kaiserlichen Majestät die Ungleichheit der Klassen im Wilhelminischen Reich vor Augen. Das ständische Prinzip von Herr und Knecht war auf den Schiffen der Kriegsmarine gelebte Realität. Diese Zeit wurde für das politische Bewusstsein Walter Krämers prägend. Im Sommer 1917 wurde Walter Krämer erstmals wegen Diebstahls vom Feldgericht II M.J. in Wilhelmshaven zu einer Haftstrafe von sechs Wochen verurteilt. Er hatte das Lebensmitteldepot der Offiziere aufgebrochen, um an Proviant für sich und seine Kameraden zu gelangen. Nachdem er aus der Haft entlassen worden war, geriet Krämer, als er zurück an Bord kam, in die ersten allgemeinen Unruhen auf den Schiffen, die ein Ausdruck der hohen Unzufriedenheit der Matrosen mit den Lebensbedingungen in der deutschen Marine waren. So desertierte Krämer schon nach kurzer Zeit und suchte Unterschlupf in der Illegalität von Wilhelmshaven, wurde jedoch alsbald gefasst und am 27. September 1917 wegen unerlaubten Entfernens vom Schiff und Betruges zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Wochen gerichtlich verurteilt. Die Strafe saß der inzwischen 25-Jährige in Siegburg ab. Doch noch ehe er die Strafe ganz verbüßt hatte, griff der Matrosenaufstand um sich und erreichte von Kiel ausgehend zahlreiche Großstädte. Schließlich befreiten Matrosen aus Köln das Gefängnis von Siegburg und es scheint, dass Walter Krämer mit Abgesandten des Kölner Soldatenrates wohl am 9. oder 10. November 1918 in seine Heimatstadt, Siegen, zurückgekehrt ist.

Mit den Kölner Matrosen kam auch der Anstoß zur Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates nach Siegen, wie sie zum Ende des Kaiserreiches 1918 in zahllosen Städten und Gemeinden gegründet wurden. Die Arbeiter- und Soldatenräte wurden spontan zur kommunalen Selbstverwaltung gegründet und waren untereinander nicht vernetzt. In Siegen bildete sich ein solcher Rat unter Billigung des damaligen Oberbürgermeisters Delius auf Veranlassung der Stadtverordnetenversammlung, der allerdings den Titel eines Sicherheits- und Wohlfahrtsauschusses trug. Dabei handelte es sich um ein Gremium, das von der Versammlung der Stadtverordneten eingesetzt wurde und in dem sich ausschließlich honorige Bürger der Stadt befanden. Es kann also bei der sehr konservativen Haltung der städtischen Vertreter in Bezug auf die Bildung des Siegener Arbeiter- und Soldatenrates lediglich von einer kontrollierten Reaktion auf besondere politische Umstände, keinesfalls jedoch von einer revolutionären Aktion die Rede sein. Aufgaben des Rates waren die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung, des Schutzes für Leben und Eigentum, die Fortführung der Lebensmittelversorgung und die Sorge für die Bewachung der Kriegsgefangenen. Bereits Ende Januar 1919 stellte der Rat seine Tätigkeit in Siegen ein. Walter Krämer war zu keiner Zeit in dem Gremium tätig.

I.2: Die politischen Verhältnisse der Zeit

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war nicht nur für Siegen eine Zeit außerordentlicher Not. Nahrungsmittel fehlten, die Preise stiegen stetig, während die Lohnentwicklung nicht Schritt halten konnte. In der Bevölkerung machte sich große Unzufriedenheit breit und Streiks bestimmten den Alltag. Unter diesen Umständen gelang es den rechtkonservativen Parteien, Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und Deutsche Volkspartei (DVP), die christlich-national geprägte Bevölkerung in der Stadt Siegen und im Kreis Wittgenstein für sich einzunehmen. Der Kaiser hatte abgedankt und war ins holländische Exil gegangen. Eine Republik war ausgerufen worden, der man im Siegerland mindestens skeptisch gegenüberstand, sofern man sie nicht gar kategorisch ablehnte. „Und Du, Du bist auch einer von denen, die schuld daran sind, dass unser armer Kaiser und die Kaiserin flüchten mussten.“ Mit diesen Worten wurde Walter Krämer von seiner eigenen Mutter bei seiner Heimkehr an der Tür des Elternhauses empfangen. Sie bezog sich dabei auf seine Fahnenflucht, für die er in Siegburg inhaftiert war. Wie tief der Nationalismus in Siegen saß, mag ein weiteres Zitat illustrieren. Karl Koch schreibt als Augenzeuge über den November 1918: „Trotz der ungeheuren Not der Zeit, trotz der tiefen Demütigungen, die der Feind in siegestrunkenem Übermute den deutschen Landen auferlegt, prangt die ganze Stadt [Siegen] drei Wochen lang im Siegeskleid, im reichsten Flaggen- und Girlandenschmuck. So wünscht es auch der Arbeiter- und Soldatenrat. Vom Nikolaikirchturm und der neuen Rathauskuppel wehen wieder die Farben des Reiches und der Stadt.“

Der Weimarer Republik gelang es nicht endgültig in der Bevölkerung Fuß zu fassen. Am 13. März 1920 sollte der konterrevolutionäre Kapp-Lüttwitz-Putsch in Berlin die Republik beinahe an den Rand eines Bürgerkrieges bringen. Die Auseinandersetzungen wurden bis in das Ruhrgebiet hineingetragen. Hier beteiligte sich auch Walter Krämer auf Seiten der Roten Ruhrarmee als Führer einer Hundertschaft aktiv am Kampf gegen die Reichswehr. Er musste kurz zuvor Siegen verlassen, da er sich am Diebstahl eines Motorrads beteiligt hatte und erwischt worden war. Zusammen mit seinem Komplizen Heinrich Wick, einem Vater von vier Kindern, konnte er nach der Verhaftung entfliehen. Walter Krämer setzte sich daraufhin erstmal in das Ruhrgebiet ab, kehrte jedoch alsbald nach Siegen zurück und stellte sich freiwillig der Polizei. Im Juli 1921 wurde er dann des Diebstahls wegen vom Schöffengericht Siegen zu neun Monaten Haft verurteilt, die er in Elberfeld verbüßte. Vor seinem Haftantritt im August 1922 hatte er noch Beschäftigung bei den Siegen-Lothringer Werken, den Firmen Waldrich und den Weber-Werken gefunden und zudem seine zukünftige Frau Margarete Elisabeth, geb. Lehmann, gesch. Herth, genannt Liesel, kennengelernt, die er am 08. September 1923 heiraten sollte. Beide waren noch im Jahr 1921 in die KPD eingetreten, nachdem sich im Zuge einer Urabstimmung vom 03. Oktober 1920 ein größerer Teil der Siegener Sozialdemokraten für eine politische Orientierung in Richtung Moskau ausgesprochen hatte. Walter Krämer war bis dahin Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) gewesen.

Die zumeist sehr kurzen Beschäftigungsverhältnisse ihres Mannes führte Liesel Krämer in ihren Lebenserinnerungen vor allem auf die Ablehnung der Arbeitgeber ihres Mannes gegenüber dessen politischer Gesinnung zurück. So war auch der Grund für die Entlassung Walter Krämers aus seinem ersten Arbeitsverhältnis auf der Charlottenhütte in Niederschelden nach Verbüßung der Haftstrafe seiner politischen Agitation geschuldet. So legte die Charlottenhütte in einem offiziellen Schreiben dar: „Trotz der kurzen Beschäftigung hatte Krämer es verstanden, sich großen Einfluss bei unserer Belegschaft zu verschaffen. Derselbe trat dann auch, aufgemuntert durch den Deutschen Metallarbeiterverband, in einen Proteststreik und demonstrierte vor unserem Verwaltungsgebäude.“ Die politische Stimmung in Siegen kann für diese Zeit nur als äußerst gereizt dargestellt werden. Aufgrund der insgesamt großen Not war es zuletzt am 09. September 1921 zu gewalttätigen Ausschreitungen und der Plünderung von etwa dreißig Geschäften mit Millionenschaden in Siegen gekommen. Träger der Krawalle waren Teile der verarmten und völlig mittellosen Arbeiterschaft, die jetzt über die Geschäfte der Siegener Oberstadt hergefallen war, Schaufenster eingeschlagen und die Läden leergeräumt hatte. Trotz aller Not und Ausuferungen war das Siegerland keinesfalls ein Sammelbecken politisch radikaler Kräfte. Das Gegenteil war der Fall. Die KPD hatte es ausgesprochen schwer Mitglieder zu gewinnen. Obschon die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs sehr schlecht, die Löhne niedrig, die Preise sehr hoch und Streiks an der Tagesordnung waren, erwies sich die siegerländer Arbeiterschaft als so ausgesprochen langmütig und leidensfähig, dass revolutionäre politische Ideen hier keinen bedeutenden Zuspruch fanden. So berichtet etwa der Landrat des Landkreises Siegen noch am 23. Oktober 1921, „[…] dass für die kommunistischen Ideen in der hiesigen Arbeiterschaft kein Boden vorhanden ist.“ Dennoch bildete sich in und um Siegen bis 1922 ein Unterbezirk der KPD. So musste dann auch der Landrat bereits 1922 an den Regierungspräsidenten in Arnsberg das Bestehen von insgesamt zwölf KPD-Ortsgruppen im Kreisgebiet melden. Die Ortsgruppe Siegen wurde geleitet von Peter Brinkschulte und Walter Krämer.

I.3: Erste Anklage wegen Vorbereitungen zum Hochverrat

Obschon das Jahr 1922 unerwartet ruhig verlief, wurde am 27. September 1922 der Ausnahmezustand im Deutschen Reich verhängt und die beiden Parteien KPD und NSDAP vorübergehend verboten. Beide Seiten des antirepublikanischen Spektrums, also sowohl Kommunisten als auch reaktionäre Nationalisten hatten begonnen, sich für einen gewalttätigen politischen Umsturz zu rüsten, indem sie dazu übergingen, Waffen zu horten und taktische Pläne für paramilitärische Auseinandersetzungen zu hinterlegen. Die Siegener Kriminalpolizei behielt deshalb den zweiten Vorsitzenden der KPD-Ortsgruppe Siegen, Walter Krämer, besonders im Auge. Dieser tat sich dadurch hervor, dass er zusammen mit Otto Jüngst und Ernst Schramm einige konkrete Vorbereitungen zum Sammeln und Anfertigen von Waffen und Sprengstoffen sowie taktische Konzepte zur Organisation von Kampfgruppen und Besetzung von Verfügungsräumen im Alarmfall entwickelte. Am 15. Oktober 1923 wurde Krämer den KPD-Genossen trotz Versammlungsverbots auf einer Zusammenkunft bei Eisern als ‚militärischer Oberleiter‘ vorgestellt. Dieser ‚militärische Oberleiter‘ präsentierte seinen Genossen dann am 21. Oktober 1923 einen konkreten Einsatzplan. Daher empfahl die Kriminalpolizei Siegen, Krämer (und 14 weitere KPD-Anhänger) alsbald in Schutzhaft zu nehmen, da er im Falle eines etwaigen Putsches höchstwahrscheinlich die Führung der Kommunisten im Siegerland übernehmen werde. Im November wurde Krämer dann tatsächlich verhaftet. Am 23. November 1923 hatte man in seiner Wohnung eine Pistole mit sieben Schuss dazu unpassender Infanteriemunition bei einer Durchsuchung gefunden. Zunächst wurde Krämer für eine Woche im Siegener Gerichtsgefängnis inhaftiert, ehe er in die Strafanstalt Arnsberg und später nach Hagen verlegt wurde. Inzwischen war die Schutz- in eine Untersuchungshaft umgewandelt worden. Die Anklage gegen Krämer und 14 seiner siegerländer Genossen lautete auf Hochverrat.

Die Strafsache wurde innerhalb von nur vier Prozesstagen im Januar 1925 vor dem 4. Strafsenat des Leipziger Reichsgerichts verhandelt. Die Urteile gegen die 15 Angeklagten lauteten auf Freiheitsstrafen zwischen einem und vier Jahren und sechs Monaten. Walter Krämer wurde mit drei Jahren und sechs Monaten bestraft, wovon ein Jahr und ein Monat Schutz- und Untersuchungshaft abzuziehen waren. In der Urteilsverkündung kam der Strafsenat zu folgender Einschätzung: „Die Angeklagten behaupten, ihre Vorbereitungen hätten ausschließlich der Abwehr ‚von rechts drohenden Gefahr‘ gegolten. Das ist nicht richtig. […] Aber ihr Ziel war nicht, Verfassung und Regierung zu schützen. Hätte sie das gewollt, so hätte sie sich mit den Machtmitteln des Staates verbünden müssen. Das Gegenteil war der Fall. Ihr Kampf galt nicht zuletzt diesen Bollwerken der bestehenden Verfassung. Sie sollten zermürbt, unterhöhlt, zersetzt werden.“ Letztlich muss jedoch anerkannt werden, dass die KPD im Siegerland gänzlich auf verlorenem Posten stand. Das Siegerland war damals der reaktionärste Teil ganz Westfalens. Sozialdemokratische oder gar kommunistische Ideen wurden hier von der reaktionär-konservativen Presse nicht etwa nur angegriffen, sie wurden ganz und gar lächerlich gemacht. Die Gefangenen wurden nach der Urteilsverkündung zur Ableistung ihrer Haftstrafen nach Cottbus gebracht. Hier zeigte sich das herausragende organisatorische Talent Krämers, der noch zweieinhalb Jahre Haft zu verbüßen hatte, überdeutlich. Krämer ließ unter den Gefangenen Vertrauensleute wählen, die Kontakt mit dem Gefängnisdirektor Dürr aufnehmen sollten, um Vergünstigungen auszuhandeln. So gelang es etwa für alle politischen Gefangenen Arbeitsbefreiung und Selbstbeschäftigung durchzusetzen. Sie erhielten Zusatzverpflegung durch Einkauf, gemeinsame und doppelte Freistunden, unverschlossenen Türen im Zellenbau, Sonderzahnbehandlung und durften sogar Sport-, Kultur- und Schulungsveranstaltungen durchführen. Ab 04. Januar 1927 bekam Walter Krämer sogar unbegrenzten Hafturlaub, sodass er die letzten acht Monate seiner Haft nicht mehr absitzen musste.

I.4: Aufstieg in in die Parteispitze der KPD

Schon im April verzog er mit seiner Frau nach Düsseldorf und von dort im Mai nach Krefeld, wo er den bezahlten Posten eines KPD-Parteisekretärs annahm und später Mitglied der Bezirksleitung Niederrhein der KPD wurde. Der Oberreichsanwalt wies den Polizeipräsidenten in Krefeld daraufhin an, Krämer beobachten zu lassen. In dieser Zeit trat Krämer als politischer Publizist und Agitator in Erscheinung, ließ sich jedoch keine strafrechtlichen Verfehlungen zuschulden kommen. Am 11. Dezember 1928 siedelte Krämer dann nach Barmen über, um dort eine Stelle als Parteisekretär anzutreten. In dieser Funktion trat er häufiger öffentlich auf und geriet mehrmals wegen kleinerer Delikte wie Beleidigung mit der Staatgewalt aneinander. Am 01. März 1931 meldete er sich in Kassel als Bezirksleiter und Geschäftsführer der KPD. Hier wurde Krämer am 13. Juni 1931 erstmals wieder in Schutzhaft genommen, da er ein Flugblatt unter dem Titel „Die Ordnungsbestie wütet“ verfasst haben sollte. Obschon Krämer erneut des Hochverrats bezichtigt wurde, musste die Anklage gegen ihn im Oktober 1931 wieder fallen gelassen werden. Da die staatliche Verfolgung gegen Walter Krämer immer weiter zunahm und dieser inzwischen wegen Aufruhrs sogar zu sieben Monaten Haft verurteilt war, forderte die Partei ihn und seine Frau auf, nach Berlin in die Illegalität abzutauchen. Hier arbeitete Krämer in der Folgezeit im Karl-Liebknecht-Haus, bis er sich entschied für die KPD bei den Wahlen zum Preußischen Landtag am 24. April 1932 anzutreten. Er erhielt ein Abgeordnetenmandat und wurde schon während seiner ersten Landtagssitzung in eine tätliche Auseinandersetzung mit Vertretern von NSDAP und SA verwickelt. Im Mai wechselte Krämer dann nach Hannover, um den Posten des politischen Sekretärs der KPD-Bezirksleitung zu übernehmen. Hier konnte er durch mutiges Agitieren gegen die Nationalsozialisten Boden bei den Wählern für die KPD gut machen. Vom 10. bis 12. Dezember fand dann der letzte legale Bezirksparteitag der KPD unter dem Titel „Bolschewistische Offensive“ statt. Hier forderte Walter Krämer nochmals alle Arbeiter zur Einheitsfront gegen den Faschismus auf. Mitte Februar 1933 reiste Krämer zu einem Treffen kommunistischer Spitzenfunktionäre nach Hamburg, wo er auf Ernst Thälmann traf, der Weisung gab, die Partei unter dem Eindruck der heraufziehenden Nazidiktatur vollkommen auf ein Operieren in der Illegalität umzustellen. Am frühen Morgen des 28. Februar 1933 zum Zeitpunkt des Reichstagsbrands geschah es dann. Gegen 05:30 Uhr wurde Walter Krämer durch die Kriminalpolizei Hannover in seiner Wohnung verhaftet.

I.5: NS-Haft

Am 03. März 1933 wurde Walter Krämer das erste Mal vernommen. Ihm wurde zur Last gelegt, Vorbereitungen zu hochverräterischen Unternehmungen gegen den Staat in Hannover getroffen zu haben, indem er gemeinschaftlich mit anderen kommunistischen Kadern regierungsfeindliche Schriften in Umlauf gebracht habe. Die Schutzhaft wurde am 11.03.1933 in Untersuchungshaft umgewandelt. Die parlamentarische Immunität wurde vom zuständigen Untersuchungsrichter mit der Begründung aufgehoben, dass die Verhaftung Krämers vor dem Beginn der Sitzungsperiode erfolgt sei. Bei seiner Vernehmung durch Landgerichtsrat Schaper sagte Krämer am 12. Mai 1933 folgendes aus: „Die Ziele der KPD sind mir bekannt, ich billige sie. Ich stehe nach wie vor zu den Beschlüssen der Deutschen KP und zu den Beschlüssen der Kommunistischen Internationale.“ Das kam aus der Perspektive des sich zur NS-Diktatur wandelnden Staates einem vollumfänglichen Schuldeingeständnis gleich. Spätestens jetzt war Walter Krämer ein ausgewiesener Staatsfeind. Da nutzte es auch nichts, dass er vehement bestritt, die Partei habe beabsichtigt, einen bewaffneten Aufstand zum Umsturz der staatlichen Ordnung herbeizuführen. In einem Brief an seine Frau schrieb Walter Krämer in jenen Tagen: „Es gibt nur einen Weg für mich: meiner inneren Überzeugung gemäß zu handeln, dafür einzustehen und alle Konsequenzen auf mich zu nehmen.“ Wie realistisch Krämer seine Lage einschätzte beweist ein Brief vom 15. Dezember 1933 an seine Frau: „Du musst Dich ein für alle Mal mit dem Gedanken vertraut machen, dass unsere Trennung eine längere sein wird. […] Hier spielt auch weniger die Frage der ‚Schuld‘ oder der ‚Nichtschuld‘ eine Rolle, als vielmehr die Tatsache, dass ich ein überzeugter Anhänger und tätiger Funktionär der Partei war und mich auch heute noch dazu bekenne. Das ist des ‚Pudels Kern‘ und damit haben wir uns beide abzufinden.“ In der Untersuchungshaft genoss Walter Krämer noch einige Vergünstigungen wie den Empfang von Zeitungen, Büchern, Briefen und Besuchen. Zudem vertraute Walter Krämer auf seine Konstitution: „Wir Westfälinger, insbesondere wir Siegerländer, haben einen harten Kopf und einen gesunden Sinn mit auf den Weg bekommen. Dem ergeht es wie unserem Erz, das so mühsam aus den Bergen herausgeholt wird und das in der Glutofenhitze des Hochofens zu Stahl wird, der, je mehr man ihn hämmert, desto härter und unbeugsamer wird.“ Am 22. Juli 1934 sandte Krämer den letzten Brief aus der Untersuchungshaft in Hannover nach Hause, in dem er sich freute, dass nun die Voruntersuchung endlich abgeschlossen war. Dennoch warnte er seine Frau: „Es wird jedoch auf alle Fälle gut sein, wenn Du dir so wenig wie möglich Illusionen machst, umso mehr, als sich die Handhabung der Rechtsprechung in politischen Prozessen weniger auf die formal juristische Seite der Angelegenheit erstreckt als vielmehr auf die Gesinnung des Einzelnen. Mit dieser Tatsache haben wir uns aber abzufinden und müssen ihr in aller Ruhe und Gelassenheit entgegensehen.“

Die Hauptversammlung gegen Krämer und Genossen wurde vom Volksgerichtshof für Montag, den 17. Dezember 1934 festgesetzt. Außer Walter Krämer saßen auf der Anklagebank der Redakteur Max Lademann, die Stenotypistin Maria Geiger und der Metallarbeiter Theodor Nagel, die allesamt Mitarbeiter des KPD-Büros Hannover waren. Im Kern umfasste die Anklage folgenden Sachverhalt: Es sei gerichtsbekannt, dass die KPD den gewaltsamen Umsturz innerhalb des Staates zugunsten einer Diktatur des Proletariats plane, hierzu versuche sie Polizei und Reichswehr zu zersetzen und über Massenaktionen wie Demonstrationen und Streiks ein Chaos zu stiften, das geeignet scheint zum bewaffneten Kampf überzugehen. Während der eintägigen Verhandlung verweigerte Walter Krämer hartnäckig jede Aussage, die weitere Genossen belastet hätte. Am nächsten Morgen wurden die Urteile gesprochen. Walter Krämer wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren Gefängnis verurteilt, auf die 12 der 22 Monate Untersuchungshaft angerechnet wurden, sodass sein Entlassungstermin aus der Haft der 19. Dezember 1936 gewesen wäre. Besonders die Tatsache, dass es sich bei den Verurteilten nicht um Verführte, sondern um Verführer handele, hob das Gericht in seiner Urteilsbegründung hervor. Allein die Tatsache, dass das Gericht anerkannte, die Angeklagten hätten sich niemals unehrenhafter Mittel bedient, trug dazu bei, dass sie nur eine Gefängnis- nicht aber eine deutlich härtere Zuchthausstrafe zu verbüßen hatten. Dennoch war die Gefängnishaft ungleich schärfer als die vorhergehende Untersuchungshaft. Liesel Krämer berichtete später: „Dort hat man ihn schlimmer behandelt als einen Schwerverbrecher, ich kannte ihn beim Besuch kaum wieder, völlig entkräftet, voller Furunkel. Man hat ihn dort furchtbar misshandelt. Zwei Zellen hatte er, eine, um zu arbeiten, die andere zum Schlafen. Eine kalte Zelle mit einem Betonklotz, vollkommen entkleidet hat er dort schlafen sollen und es war damals ein kalter Winter.“ Als Liesel Krämer ihren Mann am 19. Dezember 1936 aus der Haftanstalt Hannover abholen wollte, wurde ihr vom Gefängnisdirektor mitgeteilt, die Haft sei um 12 Uhr Mittag verbüßt, danach aber verfüge die Gestapo über Walter Krämer. Es gelang Liesel Krämer vor Ort, ihren Mann noch ein letztes Mal in ihrem Leben im Gerichtsgefängnis von Hannover zu sehen, bevor ihr von der Gestapo mitgeteilt wurde, dass Walter Krämer in ein Umschulungslager gebracht werde.

I.6: Inhaftierung im Konzentrationslager Buchenwald

Zunächst wurde Walter Krämer in das Konzentrationslager (KZ) Lichtenburg verlegt, wo er bis zum Herbst 1937 verblieb. Anschließend wurde er mit einer Gruppe von Häftlingen auf den Ettersberg bei Weimar verbracht, wo die Gefangenen das Konzentrationslager Buchenwald zu errichten hatten. In 14 bis 16 Arbeitsstunden pro Tag wurde das gesamte Lager unter Zuhilfenahme einfachster Werkzeuge errichtet. Selbst der Wald musste noch auf dem vorgesehenen Gelände durch die späteren Insassen gerodet werden. Schon zu diesem Zeitpunkt organisierten sich die politischen Häftlinge und knüpften Verbindungen, um später strategisch wichtige Posten der Lagerstruktur besetzen zu können wie etwa die Funktionsstellen im Häftlingskrankenbau. Im März 1938 gelang es mit Unterstützung des politischen Häftlings Willi Dehnert den gelernten Schlosser Walter Krämer als Pfleger im Häftlingskrankenbau zu installieren. Der machte sich umgehend daran, sich mit Hilfe jüdischer Ärzte aus Wien sowie einschlägiger Fachliteratur der SS-Ärzte ein profundes medizinisches Wissen anzueignen. So gelang es Walter Krämer Ende 1938 zunächst die Verantwortung für die chirurgische Ambulanz, die chirurgische Station und die Häftlingsapotheke zu übernehmen. Bald darauf wurde er zum Kapo (Vorsteher) des Häftlingskrankenbaus.

Von Beginn an versuchten sich die in verschiedene Kategorien aufgeteilten Häftlinge des Lagers Buchenwald, jeweils innerhalb der eigenen Klientel zu vernetzen und so zu organisieren, dass sie Einfluss auf das Lagerleben nehmen konnten. Hier stachen zwei Gruppen besonders hervor. Zum einen gab es die zwar sehr gut organisierten, aber zugleich äußerst korrupten Berufsverbrecher, die von der Lager-SS gerne als Handlanger eingesetzt wurden. Zum anderen waren die politischen Häftlinge und unter diesen vor allem die Kommunisten, nicht etwa die Sozialdemokraten, besonders aktiv, wenn es darum ging zentrale Schaltstellen im Lager mit Funktionshäftlingen zu besetzen. Beide Seiten rangen durchgängig miteinander um die Vormachtstellung im Lager, wobei es den Kommunisten gelang, über weite Strecken die Oberhand zu behalten. Das Ziel der kommunistischen Häftlinge war es, möglichst zentralistische Strukturen aufzubauen, die Möglichkeiten des organisierten Widerstandes gegen die SS und eine Humanisierung der Haftbedingungen schaffen sollten. Bis 1944 war es den Kommunisten in der Tat gelungen, Strukturen aufzubauen, die einer ‚Häftlingsselbstverwaltung‘ gleich kamen. Hierzu bemerkte der ehemalige Buchenwaldhäftling Harry Naujoks: „Wir hielten uns die SS vom Leibe, wenn alles klappte. Wir machten uns bis zu einer gewissen Grenze unentbehrlich. Die SS erwartete aber mehr von uns, nämlich unsere Bereitschaft, als ihre Erfüllungsgehilfen zu funktionieren. Wir dagegen waren, gestützt auf das Vertrauen der Mehrheit der Häftlinge, willens, allen Anfechtungen und Zumutungen zu widerstehen und unseren schmalen Spielraum voll zugunsten der Gefangenen zu nutzen.“ Die wichtigste Bedingung zur Erlangung einer Häftlingsselbstorganisation war letztlich die strenge Einhaltung konspirativer Regeln, d.h. absolute Verschwiegenheit und hermetische Abgeschlossenheit eines kleinen Führungskaders kommunistischer Häftlinge, der versuchte auf die Geschicke des Lagerlebens Einfluss zu nehmen. Zu dieser Strategie gehörte schließlich auch die gezielte Schonung der eigenen Kader auch zum Nachteil anderer Häftlinge. Der Aufbau einer zweiten unsichtbaren Macht im Lager ist an die Entlastung der SS durch die ‚Häftlingsselbstverwaltung‘ gekoppelt. Die personelle Ausstattung der SS hätte kaum ausgereicht, ein derart großes und überlaufenes Lager wie Buchenwald organisiert zu führen. Durch die Einbindung der Häftlinge in die Lagerverwaltung und die Übertragung einer gewissen Mitverantwortung auf die Gefangenen musste sie sich die Lager-SS immer weniger um die Alltagsabläufe und Detailprobleme im Innern des Lagers kümmern. Der Soziologe Wolfgang Sofsky spricht in diesem Zusammenhang von gestaffelter Macht, die durch ein ausgeklügeltes System der Kollaboration, also die Einbindung einer Funktionselite aus dem Kreis der Beherrschten in die die Strukturen und Prozesse der Herrschaftsausübung, versucht ein System der absoluten Macht zu etablieren. Das bedeutete für die Funktionshäftlinge, dass es unmöglich war, die Rolle eines Kapos auszufüllen und sei es mit den besten Absichten, ohne Schuld auf sich zu laden. Allein zur Aufrechterhaltung des eigenen Einflusses und zum Schutz der eigenen Klientel war es notwendig, Gegner aus ihren Funktionen zu verdrängen, sie zu denunzieren, an die SS auszuliefern oder durch Lynchjustiz auszuschalten.

I.7: Der Häftlingskrankenbau im KZ-Buchenwald

Eine der wichtigeren Funktionsstellen innerhalb des Kapo-Systems war der Häftlingskrankenbau. Hier war die Arbeit besonders heikel, da einerseits kranke Mitgefangene zu versorgen waren, andererseits aber auch die SS-Ärzte die Assistenz der Pflegenden bei verbrecherischen Handlungen forderten. So wurde die Krankenstation nicht etwa nur zu kurativen Zwecken, sondern auch als Ort für gezielte Tötungen und medizinische Experimente an Menschen genutzt. Auch wurden von hier aus arbeitsunfähige jüdische Häftlinge und Menschen mit Behinderung in die Tötungsanstalten nach Pirna und Bernburg überführt. Walter Krämer wurde für seine Position als Verantwortlicher für den Häftlingskrankenbau durch andere einflussreiche politische Häftlinge in Stellung gebracht, da er aufgrund seiner politischen Biographie als absolut zuverlässig galt. Er gehörte zur Gründergeneration der KPD, hatte seiner politischen Arbeit alles andere untergeordnet und es so bis zum Aufstieg in die Parteiprominenz gebracht. Mit Antritt seines Amtes als Kapo des Häftlingskrankennbaus änderten sich die Verhältnisse dort von Grund auf. „Von diesem Zeitpunkt an wurde der Krankenbau zu einem Hauptstützpunkt im Kampf gegen die SS sowie die Oase der Sicherheit für die Häftlinge.“ So zumindest erinnert sich der seit 1938 in Buchenwald inhaftierte Herbert Strobel. Zunächst ordnete Krämer die Personalverhältnisse neu und tauschte Teile des bisherigen Personals gegen „politisch zuverlässige Kameraden“ aus. Sodann begann er damit die Medikamentenbestände aufzubessern, indem er hierfür den politischen Häftling Arthur Dietzsch mit der Aufgabe der Medikamentenbeschaffung betraute. Um die Medikamente bei der SS einkaufen zu können, wurde für jeden der kranken Häftlinge ein eigenes Konto angelegt. Im Zuge einer Typhusepidemie im Lager gewann er die SS-Ärzte sogar für eine Impfaktion zugunsten der Häftlinge. Außerdem gelang es ihm, das Einverständnis der SS für die Versorgung polnischer Kriegsgefangener einzuholen, die durch Hunger und Kälte dem Tod überantwortet werden sollten. Dem außerordentlichen Organisationstalent Krämers ist die geglückte Einrichtung eines zweiten illegalen Krankenbaus, dem sog. OP II mit Röntgengerät, zu verdanken, der maßgeblich zur Verbesserung der chirurgischen Versorgung der Häftlinge beitrug. Zudem hatte sich Walter Krämer persönlich durch nächtliche Übungen in der Lagerpathologie und das disziplinierte Studieren medizinischer Fachliteratur zum Chirurgen fortgebildet, dessen Dienste sogar von höheren SS-Dienstgraden in Anspruch genommen wurden. So operierte er unter anderem den General der Waffen-SS und Erbprinzen von Waldeck-Pyrmont, Prinz Josias, an einem Furunkel. Bei über 200 Operationen soll Walter Krämer mitgewirkt haben, bei den meisten davon sogar als verantwortlicher Operateur. Es ist sein Verdienst, dass auch solchen Häftlingen Hilfe zuteilwurde, denen zu helfen bei Todesstrafe verboten war, so etwa Juden und Polen. Unter Walter Krämer wurde der Häftlingskrankenbau zu der rettenden Institution im Lager Buchenwald und zugleich zu einem Hort des Widerstands gegen die SS. Walter Krämer hatte im Zuge seiner Tätigkeit eine solche Autorität und Souveränität gewonnen, dass er für die SS gleichsam zu einer Gefahr wurde. Dennoch war die Tätigkeit eines Kapos immer auch von Schuld überschattet, der kein Verantwortungsträger entkommen konnte. Um 1940 begannen die SS-Ärzte Wagner, Hoven und Eisele mit Massenliquidationen durch Injektionsspritzen und operativen Menschenexperimenten. Hierzu führte Herbert Strobel aus: „Diese schrecklichen Ereignisse veranlassten die politischen deutschen Häftlinge des Krankenbaues zu einer grundsätzlichen Stellungnahme. Die Ansicht, aus dem Kommando auszuscheiden und das Feld wieder den kriminellen Häftlingen zu überlassen, wurde als verantwortungsscheu und lagergefährdend abgelehnt.“ Man habe, so Strobel, die Zeugenschaft auf sich genommen, um zu retten, was zu retten war.

Walter Krämer hatte längst eine außerordentliche Stellung im Lager eingenommen, als er in die Verlegenheit geriet, ausgerechnet den Lagerkommandanten Karl Koch von einer Syphilis zu befreien. Da Krämer zudem über Korruptionsvorgänge innerhalb der SS und von der Unterschlagung jüdischen Eigentums durch die SS wusste, ließ Koch sowohl Walter Krämer als auch dessen Stellvertreter Karl Peix ermorden. Die beiden für den Krankenbau verantwortlichen Häftlinge wurden im Oktober 1941 auf Befehl des Lagerkommandanten an das Lagertor gerufen und für sechs Tage in Bunkerhaft genommen. Anschließend brachte man sie in das Außenkommando Goslar, wo sie an getrennten Orten eingesetzt wurden. Hier wurden beide ohne irgendwelche Zeugen durch gezielte Schüsse ermordet. Als Todesursache wurde auf den entsprechenden Formularen „Auf der Flucht erschossen“ angegeben.

II. Erinnerungskulturelle Debatten

II.1: Existiert ein Erinnerungsort Walter Krämer im kollektiven Gedächtnis der Siegener Bürger?

„Als Bürgermeister der Stadt, in der Walter Krämer geboren wurde, glaube ich, die Aufgabe zu haben, in meiner Rede die Schwierigkeit des Gedenkens anzusprechen. Walter Krämer war überzeugter Kommunist. Es gibt keinen Grund zu verschweigen, dass die Stadt Siegen sich lange schwer getan hat, für diesen Mann zu einer Form des ehrenden Angedenkens zu finden. Die Ursache dafür liegt, wie ich glaube, in der alten Bundesrepublik vielerorts sichtbar gewordener Tabuisierung des sozialistischen und kommunistischen Widerstandes gegen die Hitlerbarbarei. Den Männern des 20. Juli, die nach dem Attentatsversuch hingerichtet wurden, hat man in Plötzensee eine Gedenkstätte errichtet. Für Walter Krämer wurde in Siegen Jahrzehnte nach seinem Tod eine Gedenktafel angebracht. Stauffenberg war ein Offizier, der den Wahnsinn des Krieges beenden wollte. Krämer war aufgrund seiner politischen Überzeugung ein Feind der Nazi-Ideologie. Beide, Stauffenberg wie Krämer, standen trotz unterschiedlichster Weltanschauung auf derselben Seite.“

Mit diesen versöhnlichen Worten resümierte der damalige siegener Oberbürgermeister, Ulf Stötzel (CDU), die Jahre der kontroversen Auseinandersetzung um eine öffentliche Ehrung Walter Krämers in Siegen, die auch zum Zeitpunkt seiner Rede am 11.04.2000 zu den Feierlichkeiten bezüglich der Ehrung Walter Krämers durch die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als einem der ‚Gerechten unter den Völkern‘ noch immer nicht abgeschlossen war. Die Kontroverse um Walter Krämer hatte zwar über die lokalen Printmedien Einzug in das öffentliche Bewusstsein gefunden, die Person Walter Krämer indes war kein Bestandteil der Erinnerungskultur in Siegen. Es gab kein breites bürgerliches Begehren für oder gegen eine öffentliche Ehrung Walter Krämers und auch keine Erinnerung an das Wirken dieses Bürgers der Stadt, weder in Hinblick auf dessen politische Tätigkeit als aktiver Kommunist noch in Bezug auf sein Wirken als Funktionshäftling im KZ Buchenwald. Ja, selbst die blanke Existenz eines Siegener Bürgers Walter Krämer war den Einwohnern der Stadt bis in die 1980er-Jahre hinein wohl weitgehend unbekannt. Die Debatte selbst, die um ein öffentliches Erinnern an einen antidemokratischen vorbestraften Kommunisten, der zugleich Widerstandskämpfer gegen die Nazis, verfolgter Vertreter der Arbeiterbewegung und Lebensretter im Konzentrationslager in Personalunion war, wurde jedoch so intensiv und polarisierend geführt, dass sie als der eigentliche siegener Erinnerungsort bezogen auf Walter Krämer gelten kann. Wie also kam es überhaupt zu einem Erinnern an die Person Walter Krämer sowie zu der Debatte um eine öffentliche Ehrung und warum gestaltete sich der Aushandlungsprozess um das Gedenken an einen Mann, der scheinbar sogar auf einer Stufe mit einem Widerstandskämpfer wie Stauffenberg genannt werden kann, so zäh?

II.2: Die Wiederentdeckung Walter Krämers

Karl Prümm stieß Anfang der 1980er-Jahre im Zuge von Recherchen für seine Habilitationsschrift zu den Publizisten Walter Dirks und Eugen Kogon auf den Namen Walter Krämer. Da dieser eine zentrale Position in der Berichterstattung Eugen Kogons über die Verhältnisse im Konzentrationslager Buchenwald in dessen Werk „Der SS-Staat“ einnahm, in seiner Heimatstadt Siegen jedoch beinahe unbekannt war, begann sich Prümm für Walter Krämer zu interessieren. Gemeinsam mit dem damaligen Vorstandsmitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Siegerland e.V. (GCJZ), Klaus Dietermann, fiel der Beschluss selbst ein Werk über Walter Krämer zu verfassen, um vor allem dessen Verdienste im KZ-Buchenwald dem Vergessen zu entreißen. So unbekannt Krämer in seiner Heimat war, so sehr wurde er von der Geschichtspolitik und der damit verbundenen politisch indoktrinierten Geschichtskultur des SED-Regimes in der DDR vereinnahmt. Hier fand in Anbindung an die 1958 eingerichtete Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald eine gezielte Verklärung des kommunistischen Widerstandes im KZ-Buchenwald statt, die der Funktionselite der kommunistischen Häftlinge ein insgesamt zu positives, beinahe heldenhaftes Image zu verleihen suchte und dabei manche missliebige Tatsache zu glätten bereit war. Mit seinem in 30 Sprachen übersetzten Roman „Nackt unter Wölfen“ setzte Bruno Apitz Walter Krämer 1956 ein Denkmal, das nicht erst seit der gleichnamigen Verfilmung von 1963 weit über Ostdeutschland hinaus ausstrahlte. In Weimar und in Chemnitz wurden zwei Medizinische Fachschulen nach Walter Krämer benannt, die jedoch unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung umbenannt wurden.

In Siegen jedenfalls nahmen Karl Prümm und Klaus Dietermann 1984 die Arbeit an ihrem ersten Buch über Walter Krämer auf, dem 2015 eine weitere umfassende Schrift folgen sollte. Bereits 1975 hatte sich der jüdische Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Hugo Herrmann, für ein öffentliches Erinnern an Walter Krämer eingesetzt, der unter Einsatz seines Lebens versucht habe, „den Quälereien an den Juden ein Ende zu setzen“. Diese Mahnung verhallte im Siegener Raum ebenso ungehört wie die Forderung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN BdA) an den Kulturausschuss der Stadt im November 1979, eine nach dem Antisemiten Adolf Stoecker benannte Straße in Walter-Krämer-Straße umzubenennen.

II.3: Das lange Ringen um einen Ort der Erinnerung an Walter Krämer

In diesem Zusammenhang zeigte sich erstmals eine kommunalpolitische Strategie mit dem missliebigen Thema Walter Krämer umzugehen, die in der Folgezeit immer wieder Anwendung fand, nämlich freundlich desinteressiertes Aussitzen. Das war bei der zunächst geringen öffentlichen Resonanz auf das Thema auch sehr leicht durchzuhalten. Demgegenüber zierte sich die Stadt in den 1960er und 1970er Jahren nicht, Straßen und Plätze nach Nationalsozialisten, deren Wegbereitern oder wegen NS-Verbrechen Verurteilter zu benennen. Hier wurden so illustre Persönlichkeiten wie Friedrich Flick, Lothar Irle, Jakob Henrich, Ernst Bach und Bernhard Weiß in Ehren gehalten und von einer breiten politischen Mehrheit gegen Kritik verteidigt. Insofern blieb die Stadt ihren konservativen Traditionen stets treu. In dieser Atmosphäre also stellten Karl Prümm und Klaus Dietermann ihre Abhandlung über Walter Krämer im Auftrag der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit 1986 der Öffentlichkeit vor. Die Kritik ließ, wie zu erwarten stand, nicht lange auf sich warten. „Vorab, ich bin nicht bereit, über das Buch eine Rezension zu schreiben. (…) Ja, was ich ablehne, das ist die Tendenz Ihres Buches, daß Sie einen Mann wie Walter Krämer, einen überzeugten und unbelehrbaren Kommunisten zum Helden und Märtyrer des Siegerlandes machen wollen und daß sie alle anderen, die zögern, vielleicht aus guten Gründen zögern, das mitzumachen, angreifen. (…) Hitler oder Stalin? Ich sehe keinen Unterschied. Und beide Seiten haben sich in gleicher Weise als Totengräber der Weimarer Republik betätigt, vor allem auch Walter Krämer. (…) Aber lohnt es sich einen Radikalen wieder auszugraben, der von Radikalen umgebracht worden ist? Das persönliche Pech von Walter Krämer war, daß die Nazis und nicht seine Kommunisten die Macht in die Hand bekamen und mißbrauchten.“ So entrüstet wendete sich der CDU-Mann Paul Tigges aus Lennestadt in einem Brief vom 27. April 1986 an Klaus Dietermann. Auch wenn es sich hier um eine Einzelmeinung handelte, inkludierte sie doch die zentralen Argumente der Gegner eines öffentlichen Gedenkens an Walter Krämer. Krämer ist als Kommunist, radikaler Antidemokrat und, was der Argumentation von Tigges noch fehlt, als verurteilter Krimineller kein würdiges Vorbild, dem ein öffentlicher Raum zur Verfügung gestellt werden sollte. So etwa lauteten und lauten die Vorbehalte gegen ein öffentliches Gedenken, die aber von Seiten der Gegner der Walter-Krämer-Initiativen kaum jemals so offen formuliert wurden und werden. Statt sich offen gegen eine Ehrung Walter Krämer zu stellen, ließ man die Initiativen in der Vergangenheit meist mit aller Freundlichkeit ins Leere laufen.

II.4: Perspektiven der standortgebundenen Erinnerung

So war es bereits im März 1985 gewesen, als die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) den Stadtrat bat „eine Mahn- und Gedenkstätte für den kommunistischen Abgeordneten des Preußischen Landtages und Buchenwald-Häftling Walter Krämer“ einzurichten. Auch auf einer Maikundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) wenige Wochen später schloss sich der damals 84-jährige Zeitzeuge Wilhelm Fries dieser Forderung mit den Worten an: „Ich halte es (…) für dringend an der Zeit, dass Walter Krämer ein Gedenkstein gewidmet wird und gehe davon aus, dass sich der Deutsche Gewerkschaftsbund diesem Anliegen anschließen wird.“ Dennoch würdigte der Stadtrat den Vorstoß der DKP nicht einmal einer Antwort. Der Erinnerungsort Walter Krämer ist seither weniger von den Bürgern der Stadt im Allgemeinen als vielmehr von drei interessierten Gruppen getragen, die jeweils eine von drei Perspektiven auf Krämer besonders hervorheben. Die Gewerkschaften zeichnen das Bild eines Leidtragenden der Arbeiterbewegung, der seine konsequente Haltung mit dem Leben bezahlte, die VVN BdA und KPD sehen in Krämer den antifaschistischen Widerstandskämpfer und standhaften Kommunisten, der sich bis zuletzt den Nazis widersetzte, während die GCJZ die Rolle des ‚Arztes von Buchenwald‘ und des Lebensretters stärker herausstellt. Letztlich überschneiden sich die Perspektiven, dennoch werden die Argumente für eine Ehrung Walter Krämers gruppenspezifisch anders gewichtet.

II.5: Ein Platz für Walter Krämer

Nach einem kurzen Diskurs jedenfalls ruhte die Causa Krämer wieder, bis Prümm und Dietermann 1991 zum 50. Todestag Krämers eine Neuauflage ihres Buches vorstellten, eine Kranzniederlegung am Grab der Eheleute Krämer sowie eine Walter-Krämer-Woche organisierten. Die Berichterstattung in den Printmedien reagierte darauf insgesamt sehr entgegenkommend. Am 16.01.1992 beantragte dann die GCJZ beim Stadtdirektor anlässlich des 100. Geburtstages von Walter Krämer eine Straße oder einen öffentlichen Platz nach Krämer zu benennen. Die Antwort der Stadt fiel positiv aus, allein es mangele leider an einer Straße oder einem Platz, die bzw. der dem Gedenken an eine derart verdiente Persönlichkeit angemessen sei. Anschließend schlief der Diskurs um Walter Krämer erneut bis etwa 1997 ein. Da nämlich schlug der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) der damaligen Universität-Gesamthochschule Siegen dem Bürgermeister der Stadt vor, den noch namenlosen Sparkassenvorplatz nach Walter Krämer zu benennen. Drei Gründe wurden hierfür artikuliert: 1. „…uns ist bekannt, daß ein Antrag der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vor ein paar Jahren lediglich mit der Begründung abgelehnt worden ist, es gäbe zur Zeit keine Straßen bzw. Plätze, die zur Namensgebung anstünden.“ 2. „Die in den betreffenden Platz einmündende Straße ist der Siechhausweg, wo Walter und Liesel Krämer ihre erste gemeinsame Wohnung hatten. 3. „Liesel Krämer wäre in diesem Jahre 100 Jahre alt geworden.“

Doch auch dieses Mal wurde die Initiative mit dem Verweis auf einen fehlenden Zusammenhang zwischen dem Platz und der Person Walter Krämer abgeschmettert. Man hielt die Benennung der Anlage mit dem Titel Scheinerplatz für deutlich sinnstiftender. Dennoch zeigte sich die Stadt bemüßigt eine Gedenktafel am Geburtshaus Walter Krämers anbringen zu lassen. Am 27. Januar 1999, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, wurde sie angebracht. Warum man in Siegen nicht bereit war einen öffentlichen Platz nach einem Opfer des Nationalsozialismus zu benennen, zeigt möglicherweise ein Zitat des CDU-Mitglieds Hans-Werner Bachmann, der bereits im April 1997 deutlich gemacht hatte, es gäbe „[…] keinen Nachholbedarf an Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit.“ Dieser Standpunkt traf wohl in etwa die öffentliche Haltung. Dennoch hatte die GCJZ einige Monate nach dem Statement Bachmanns die israelische Gedenkstätte Yad Vashem gebeten, eine Aufnahme Walter Krämers unter die „Gerechten unter den Völkern“ zu prüfen. Am 11. November 1999 wurde der Beschluss Israels, Walter Krämer posthum als einen „Gerechten unter den Völkern“ zu ehren, der GCJZ mitgeteilt. In der darauffolgenden Pressemitteilung stellte Klaus Dietermann dann noch einmal klar, dass es „akzeptierte“ und „unerwünschte Opfergruppen“ gäbe, dass Walter Krämer zur zweiten Kategorie zu rechnen und auch die Gedenktafel an dessen Haus nur ein unliebsamer Kompromiss nach langem zähen Ringen mit der Stadt gewesen sei. Als die Feierlichkeiten zur Ehrung Krämers am 11.04.2000 in Siegen begangen werden sollten, musste die Veranstaltung, ob des unerwartet hohen Rücklaufs von Einladungskarten an die israelische Botschaft noch kurzfristig in einen kleineren Saal verlegt werden. Der damalige Siegener Bürgermeister Ulf Stötzel (CDU) schlug bei seiner Festrede (wie oben zitiert) dennoch versöhnliche Töne an. Denen jedoch nur wenige Monate später die Totalverweigerung der CDU-Fraktion im städtischen Kulturausschuss bezüglich einer möglichen Ehrung Walter Krämers folgte.

Dieser Haltung folgend wurde auch im Jahre 2007 noch ein Bürgerantrag zur „Änderung von historisch-belasteten und zweifelhaften Straßenbezeichnungen“ von der hiesigen Kommunalpolitik abgelehnt. Immerhin kam man zu dem Entschluss einem der Ehrenbürger der Stadt, Adolf Hitler, am 29. August 2007 die Ehrenbürgerschaft zu entziehen. Zu einem öffentlichen Platz für Walter Krämer rang man sich schließlich von städtischer Seite 2012 durch. Der Platz vor dem Haupteingang des Kreisklinikums im Stadtteil Weidenau wurde im November 2014 unter dem Namen Walter-Krämer-Platz fertiggestellt. Zudem haben Karl Prümm und Klaus Dietermann im Jahre 2015 eine neue Abhandlung zu Walter Krämer unter dem Titel „Walter Krämer. Schlosser, Politiker, Arzt von Buchenwald“ herausgegeben, die mit einer Sonderausstellung im Aktiven Museum Südwestfalen im gleichen Jahr dem Erinnern an Walter Krämer einen weiteren Ort im kollektiven Gedächtnis hinzufügen konnte.

III: Quellen

IV: Beiträge der Nutzerinnen und Nutzer

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